Hamburger Euthanasie-Opfer - Die Toten von 1939 - 1945
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Die Geschichte der NS-Euthanasie in Hamburg

Dr. Michael Wunder

 
Euthanasie wurde in der Medizin lange Zeit im Wortsinne als »gutes Sterben« und Sterbebegleitung verstanden. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts setzte die moderne Euthanasiedebatte ein, die die Tötung Schwerkranker auf ihr persönliches Verlangen als Freiheitsrecht, aber auch die Tötung von bewusstlosen oder behinderten Menschen einforderte, deren Leben es nicht mehr wert sei, gelebt zu werden. Hierauf beriefen sich die Nationalsozialisten bei dem Massenmord an Menschen mit Behinderung oder mit psychischer Erkrankung. Eingebettet war der Massenmord in die rassen­hygienische Propaganda und die Entwürdigung, Ausgrenzung und Verfolgung aller andersdenkenden Menschen und aller Menschen, die nicht in die Schönheits- und Leistungsideale der Nationalsozialis­ten passten.

Ein Blick in die Euthanasie­geschichte der Moderne

Die Idee der Euthanasie im Sinne der Tötung von Menschen mit Behinderung, psychischer Erkrankung oder anderen Krankheiten, deren Leben als nicht mehr lebenswert empfunden wurde, ist kein nationalsozialistisches Konzept, sondern viel älter.

Die ersten Diskussionen des Begriffs Euthanasie als Teil ärztlichen Handelns, um unheilbar Kranken qualvolles Leiden zu ersparen, hatten einen ganz anderen Zielpunkt. So definierte Francis Bacon (1561–1626) bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts Euthanasie als ärztliche Handlung, damit »die Sterbenden leichter und sanfter aus dem Leben gehen« 1. Eine Beschleunigung des Sterbens oder gar eine aktive Tötung wird von ihm aber nicht mitgedacht. Ebenso forderte der Hallenser Arzt Johann Christian Reil (1759–1813) am Anfang des 19. Jahrhunderts eine fürsorgliche Sterbebegleitung ohne Lebensverkürzung. Der Arzt trage Sorge dafür, dass der Mensch einen natürlichen Tod habe, und müsse für ihn »auch bei den unheilbarsten Krankheiten bis zu dem letzten Hauch des Lebens« 2 tätig sein.

Erst der Philosophie- und Physikstudent Adolf Jost (1874–1908) sprach 1895 als Erster vom »Recht auf den Tod« und forderte in seiner gleichnamigen Schrift sowohl die Freigabe der Tötung auf Verlangen von körperlich Kranken als Freiheitsrecht als auch die Freigabe der Tötung sogenannter Geisteskranker.3 Der Wert des Lebens stand dabei für ihn bei beiden Anliegen im Mittelpunkt. Der Lebenswert bestehe aus der Summe von Freude und Schmerz, die das Individuum empfinde, und der Summe von Nutzen und Schaden, die das Individuum für seine Mitmenschen darstelle. In dieser modernen utilitaristischen Güterabwägung kommt er zu dem Schluss, dass der Wert eines Menschenlebens negativ werden könne. Wegen der Akzeptanz in der Bevölkerung solle der Staat aber zunächst den Ärzten nur erlauben, unheilbar Kranke nach Dokumentation ihrer Willensbekundung zu töten. Erst in einer zweiten Stufe solle der Staat die Tötung der Geisteskranken an sich ziehen und regeln.

Das Buch von Jost blieb weitgehend unbeachtet, bis der Strafrechtler Karl Binding (1841–1920) und der Psychiater Alfred Hoche (1865–1943) im Jahr 1920 ihre berühmte Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« in Leipzig vorlegten und in ihr Jost nicht nur lobend erwähnten, sondern sich in wesentlichen Gedankengängen auf ihn bezogen. Binding fragt im ersten Teil des Buches, ob die Tötung eines unheilbar Kranken auf sein Verlangen hin einen Strafausschließungsgrund biete, und beantwortet die Frage mit einem eindeutigen »Ja«, wenn die Tat »Ausfluss freien Mitleids mit dem Kranken« 4 sei. Für drei Gruppen von Menschen solle diese Art der »straffreien Erlösungstat« 5 gelten:

  • für »die zufolge ihrer Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen, die in vollem Verständnis ihrer Lage den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen geben« 6
  • für die »geistig gesunden Persönlichkeiten, die durch irgendein Ereignis […] bewußtlos geworden sind und […] zu einem namenlosen Elend erwachen würden« 7
  • für die »unheilbar Blödsinnigen, […] die das furchtbare Gegen­bild echter Menschen bilden und fast in jedem Entsetzen erwecken, der ihnen begegnet« 8.

Handelt es sich bei der ersten Gruppe um Tötung auf eigenes Verlangen, um selbstbestimmte Euthanasie, so handelt es sich bei der zweiten Gruppe (heute z. B. Wachkoma-Patienten) und der dritten Gruppe (heute z. B. Neugeborene mit schweren Behinderungen) um Tötung auf Verlangen der Gesellschaft oder des Staates. Binding fragt wie Jost: »Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger, wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren haben?« 9 Binding übernimmt von Jost die utilitaristische Abwägung über den Wert des Menschen und spricht von der »Erlösung vom Leiden eines für nicht mehr wert befundenen Lebens«. Wer diese Wertentscheidung trifft, ist zwiespältig. Die Verquickung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, der Januskopf der Euthana­sie, hat hier seine historischen Wurzeln. Bei den anschließenden Ausführungen von Hoche folgen aus den Nützlichkeits- und Wertüberlegungen dann die bekannten Hetzbegriffe »nutzlose Esser«, »leere Menschenhülsen« und »Ballastexistenzen«, die sich später in der Propaganda der Nationalsozialisten wiederfinden.

Schon zwei Jahrzehnte früher hatten deutsche Eugeniker, ausgehend von den damals international verbreiteten Annahmen des Sozialdarwinismus, die Grundlagen der Rassenhygiene gelegt und behauptet, dass die Gesellschaft durch Kultur und Zivilisation degeneriere, wenn nicht gegensteuernde eugenische Maßnahmen zur Verbesserung des menschlichen Erbguts unternommen würden. In diesem Sinne hatte Alfred Plötz (1860–1940) in seinen »Grundlinien einer Rassen-Hygiene« 1895 eine Gesellschaft entworfen, in der das Existenzrecht des Einzelnen dem Maßstab seiner rassischen Erbwertigkeit unterworfen wird.10 Nur rassisch hochwertige Paare sollten eine staatliche Lizenz erhalten, sich zu vermehren, sogenannte Erbminderwertige sollten von der Fortpflanzung durch Sterilisation ausgeschlossen werden, schwächliche Neugeborene sollten »ausgejätet« werden.

Für Deutschland kann man Ende der 1920er Jahre von einem weitgehenden gesellschaftlichen eugenischen Konsens ausgehen, der die Euthanasie insbesondere von »Minderwertigen« einschloss. In diesen Konsens waren auch die Kirchen und die bürgerlichen Parteien eingebunden. Hierauf konnten die Nationalsozialisten aufbauen, als sie am 14. Juli 1933 das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erließen, das die zwangsweise Sterilisation von Menschen mit einer diagnostizierten Erbkrankheit oder einer bestimmten sozialen Abweichung, die zu einer Erbkrankheit erklärt wurde, zum Ziel hatte.

Die Durchführung geschah anders als in den anderen europäischen Staaten mit Sterilisationsgesetzen über die Sondergerichtsbarkeit der Erbgesundheitsgerichte. Sie ist gekennzeichnet durch ständige Ausweitungen und pseudomedizinische Indikationen (beispielsweise »moralischer Schwachsinn«), aber auch die spätere Verquickung mit dem zwangsweisen Schwangerschaftsabbruch. Mindestens 350.000 Menschen wurden auf der Grundlage des Gesetzes zwischen 1933 und 1939 zwangssterilisiert, die Zahl der bei diesem Eingriff ums Leben gekommenen Betroffenen wird heute mit 5.000 bis 6.000 beziffert.11 In Hamburg wurden etwa 22.000 Zwangssterilisationen durchgeführt.12

Die zunehmende Brutalisierung im Rahmen der Sterilisationspraxis, die beständige Propaganda gegen schwächere, kranke und behinderte Menschen, aber auch die rassenhygienisch begründete, immer weiter um sich greifende Institutionalisierung von abweichenden oder für unbrauchbar gehaltenen Menschen in Heimen und Anstalten werden heute als wichtige Voraussetzung für die ab 1939 einsetzende Durchführung der »Euthanasie«-Morde angesehen.

Auch in den Hamburger Anstalten bildete sich diese vorbereitende Politik deutlich ab. So stieg die Zahl der Plätze in den Alsterdorfer Anstalten von 1933 bis 1939 von 2.157 auf 2.872, in der Heil- und Pflege­anstalt Langenhorn von 2.262 auf 2.748 und in den staatlichen Versorgungsheimen von rund 3.700 auf 5.000, ohne dass in einer dieser Einrichtungen wesentliche Erweiterungsbauten vorgenommen wurden. In Hamburg wurden diese Überbelegung und die damit einhergehende Not in den Anstalten noch dadurch verstärkt, dass in den Jahren 1934 bis 1935 die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg aufgrund wirtschaftlicher Überlegungen aufgelöst wurde und 1.366 Patientinnen und Patienten aus Friedrichsberg auf die anderen Hamburger Anstalten verteilt wurden.13 In allen aufnehmenden Einrichtungen entstand so früh ein Heer von »Heimatlosen«, die in ihrer neuen Anstalt unbeliebt und ausgegrenzt waren. Zum großen Teil gehörten sie zu denen, deren Versorgung frühzeitig auf ein Mindestmaß herabgesetzt wurde und die später häufig Opfer der Abtransporte in die »Euthanasie« wurden.

01Bacon, Francis (1623): De dignitate et augmentis scientiarum, S. 201, zit. nach Potthoff, Thomas (1982): Euthanasie in der Antike, Diss. med., Münster, S. 25.
02Reil, Johann Christian (1816): Entwurf einer allgemeinen Therapie, Halle, S. 565.
03Jost, Adolf (1895): Das Recht auf den Tod, Göttingen.
04Binding, Karl; Hoche, Alfred E. (1920): Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihre Form, Leipzig, S. 37.
05Ebd.
06Binding; Hoche (1920), S. 29.
07Binding; Hoche (1920), S. 33.
08Binding; Hoche (1920), S. 31 f.
09Binding; Hoche (1920), S. 29.
10Plötz, Alfred (1895): Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Grundlinien einer Rassen-Hygiene, Berlin.
11Vgl. Bock, Gisela (1986): Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen.
12Zit. nach van den Busche, Hendrik (2014): Universitätsmedizin im Nationalsozialismus. Forschung – Lehre – Krankenversorgung, Berlin – Hamburg, S. 159. Lohalm nennt niedrigere Zahlen: 19.202 Verfahren und 15.816 Beschlüsse, vgl. Lohalm, Uwe (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, Hamburg, S. 310.
13Ausführlich: Wunder, Michael (1990): Die Auflösung von Friedrichsberg – Hintergründe und Folgen, in: Hamburger Ärzteblatt 44, Nr. 4, S. 128–131.

Das NS-Programm der »Vernichtung lebensunwerten Lebens«

Die »Kindereuthanasie«

Im Frühjahr 1939 wurde der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden« gegründet. Vorangegangen waren im Jahre 1938 einige Gesuche Schwerstkranker an die »Kanzlei des Führers«, die um Sterbehilfe baten. Nach späteren Aussagen im Nürnberger Ärzteprozess nahm Hitler den Fall des behinderten Kindes Knauer aus Leipzig, bei dem er die Straffreiheit der Tötung garantiert hatte, zum Anlass, seinen Begleitarzt Dr. Karl Brandt (1904–1948) und den Chef seiner Kanzlei, Philipp Bouhler (1899–1945), anzuweisen, in künftigen Fällen ebenso zu verfahren.

Im August 1939 wurde die Meldepflicht für »mißgestaltete und idiotische Kinder« eingeführt. Die Meldung der Kinder, zu der die Hebammen, Geburtshelfer und Ärzte verpflichtet waren, erfolgte über die örtlichen Gesundheitsämter an den Reichsausschuss. Drei Gutachter entschieden hier mit »+« und »–« zunächst über die Einweisung dieser Kinder in eine der über 30 im gesamten Reichsgebiet geschaffenen sogenannten Kinderfachabteilungen. Später wurde dann auf der Grundlage eines Berichts der in den Kinderfachabteilungen arbeitenden Ärztinnen und Ärzte über die Tötung entschieden. In der Amtssprache hieß die Erlaubnis zur Tötung »Ermächtigung zur Behandlung«. Die Zahl der Opfer dieser ersten »Euthanasie«-Phase wird auf 5.200 geschätzt.14

Den Eltern wurde meist gesagt, dass ein letzter Behandlungsversuch unternommen werden sollte, der zur Besserung bei ihrem Kind führen könne, der allerdings auch risikoreich sei. Im Einzelfall ist es schwer zu beurteilen, ob den Eltern unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eine ansonsten ahnungslose Zustimmung abgerungen wurde oder ob durch eine psychologisch geschickte Gesprächsführung eine verdeckte Zustimmung der Eltern zur Tötung ihres Kindes erreicht wurde.15 Widersetzten sich die Eltern der Einweisung, so bestand die Möglichkeit, ihnen das Sorgerecht zu entziehen. Alleinerziehende Mütter wurden häufig über die Anordnung eines Arbeitseinsatzes gezwungen, der Einweisung ihres Kindes zuzustimmen. Eltern, die ihr Kind wieder nach Hause nehmen wollten, nachdem sie sahen, wie schlecht es behandelt wurde, wurde dies meist verwehrt, anderen wurden Antworten auf ihre Nachfragen verweigert.16

In Hamburg gab es zwei Kinderfach-abteilungen.17 Die erste Hamburger Kinderfachabteilung wurde in direkter Kooperation mit dem Reichsausschuss 1940 im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort eingerichtet. Die erste bekannte Tötung wurde dort am 24. Juni 1940 vorgenommen, die letzte am 5. April 1945. Verantwortlich war der Chefarzt Dr. Wilhelm Bayer (1900–1973). Ausführende waren seine Assistenzärztinnen und -ärzte, einbezogen waren aber in vielen Fällen auch die Stationsschwestern, weil die Kinderfachabteilung nicht als spezielle Station organisiert war, sondern das Töten auf verschiedenen Stationen stattfand. Nach der staatsanwaltschaftlichen Feststellung Ende der 1940er Jahre beträgt die Zahl der im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort getöteten Kinder mindestens 56. Nach heutigem Forschungsstand ist die Zahl jedoch deutlich höher. Für dieses Gedenkbuch wurden die Namen von 126 Kindern zusammen­getragen.

Eine zweite Kinderfachabteilung wurde auf Betreiben der Hamburger Gesundheitsbehörde Anfang 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn unter der Leitung des bis dahin als Assistenzarzt, später als Oberarzt und schließlich als ärztlicher Direktor arbeitenden Psychia­ters Dr. Friedrich Knigge (1900–1947) eingerichtet. Die Tötungen fanden hier nur bis Mitte 1943 statt, wahrscheinlich weil danach die Heil- und Pflegeanstalt in ein Allgemeines Krankenhaus umgewandelt wurde. Nach den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen Ende der 1940er Jahre betrug die Zahl der damals namentlich bekannten Opfer zwölf, nach den für dieses Buch zusammengetragenen Erkenntnissen 25.

14Die Zahl von 5.200 Opfern der »Kindereuthanasie« stammt aus der Aussage von Richard von Hegener, Anklageschrift gegen Richard von Hegener, StA Schwerin vom 9. 9. 1949, zit. nach Aly, Götz (1985): Der saubere und der schmutzige Fortschritt, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik Nr. 2, S. 37.
15Aly, Götz (1984): Der Mord an behinderten Kindern zwischen 1939 und 1945, in: Ebbinghaus, Angelika; Kaupen-Haas, Heidrun; Roth, Karl-Heinz (Hg.): Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg, S. 147–155, hier S. 151.
16Vgl. Burleigh, Michael (2002): Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Zürich – München, S. 131 ff. (Original: Death and Deliverance. Euthanasia in Germany 1900–1945, Cambridge, 1994).
17Zu den Hamburger Kinderfachabteilungen: Burlon, Marc (2009): Die »Euthanasie« an Kindern während des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen, Dissertation, http://ediss.sub.uni-hamburg.de/volltexte/2010/4578/pdf/Kindereuthanasie_Hamburg.pdf (28. 4. 2017).

Die erste Phase der NS-Euthanasie

Im Oktober 1939 verfasste Adolf Hitler den fünfzeiligen sogenannten »Euthanasie-Erlaß«, durch den die Befugnisse bestimmter Ärzte so erweitert wurden, dass »unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann«. Der Erlass wurde bewusst auf den 1. September 1939 (Beginn des Krieges nach außen, Beginn des Krieges nach innen) rückdatiert. Bereits im September 1939 wurde in einer Villa in der Tiergartenstraße 4 in Berlin (daher das erst in der Geschichtsschreibung nach 1945 eingeführte Kürzel »Aktion T 4«) die Zentrale der »Euthanasie«-Organisation aufgebaut. Ähnlich wie bei der »Kindereuthanasie« wurden auch hierzu Tarnorganisationen gegründet: die »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten«, kurz »Reichsarbeitsgemeinschaft«, die für die Erfassung der Opfer zuständig war, die »Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege«, die für den Rechtsverkehr bei der Abwicklung des Mordprogramms zuständig war, sowie die »Gemeinnützige Krankentransport GmbH«, kurz GeKraT, in deren Auftrag die berüchtigten grauen Omnibusse 18 in den Anstalten vorfuhren und die Patientinnen und Patienten abholten. Etwas später wurde die »Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten« gegründet, die das wirtschaftliche Rückgrat der Mordaktion bildete. Aus den Nachlässen der Getöteten, aus der Verwertung des Zahngoldes und durch Abrechnung von Pflegetagen über den Todestag hinaus wurden Überschüsse erwirtschaftet.19

Die Erfassung wurde über Meldebögen und die Beurteilung der gemeldeten Anstaltspatientinnen und -patienten durch jeweils drei Gutachter abgewickelt.

Selektiert wurden die »Schwächsten der Schwachen«: diejenigen, die chronisch krank waren oder bereits länger als fünf Jahre in der Anstalt verbracht hatten, und diejenigen, die pflegeaufwendig waren und keine oder nur geringe Arbeitsleistung vorweisen konnten. In Anstalten, die sich weigerten, den Meldebogen auszufüllen, wurden die Patientinnen und Patienten direkt durch Ärztekommissionen der Berliner Zentrale erfasst und beurteilt. Die Patientinnen und Patienten wurden von der GeKraT in die sechs dafür mit Gaskammern ausgestatteten Tötungs­anstalten in Grafeneck (bei Münsingen in Württemberg), Brandenburg an der Havel, Bernburg (Saale), Hartheim bei Linz, Pirna-Sonnenstein und Hadamar bei Limburg gebracht.

Mit dem Fortgang der »Aktion T 4« wurden die Verfahren abgeändert. Die »T 4«-Zentrale ging dazu über, Listen an die Anstalten zu verschicken, die teilweise mehr Namen enthielten als die Anzahl der abzutransportierenden Menschen. Den Anstaltsleitern wurde so ermöglicht, einen Teil ihrer Heimbewohnerinnen und Heimbewohner zu retten. Durch das damit verbundene Auswahlverfahren wurden sie aber auch gezwungen, sich zu beteiligen und zu verstricken.20

Auch ging man dazu über, immer häufiger in »Zwischenanstalten« zu verlegen. Dies hatte zum einen organisatorische Hintergründe, da die Tötungsanstalten häufig Kapazitätsprobleme hatten. Des Weiteren sollte aber auch vermieden werden, dass Unruhe durch Bekanntgabe von Ziel­orten entstand, die schon einen »schlechten Namen« in der Bevölkerung hatten. Es gab sogar die Anweisung, dass in den Zwischenanstalten Entlassungsanträgen durch Angehörige in jedem Fall zu entsprechen sei. In der Aufarbeitungsliteratur wird dies als »versteckte Widerspruchsfrist für die Angehörigen« 21 bewertet.

Auf den Totenscheinen wurden standardisierte Todesursachen einge­tragen: Lungenentzündung, Herzschwäche, Blinddarmdurchbruch, Maras­mus (Kräfteverfall). Den Tötungsanstalten waren sogenannte »Trostbrief-Abteilungen« und Standesämter angeschlossen, die vorformulierte Schreiben an die Angehörigen richteten. Um Spuren zu verwischen, wurden die Sterbeurkunden von Patientinnen und Patienten aus einem Heimatort bewusst in verschiedenen Standesämtern ausgestellt.

Gleichzeitig wurde in der Kanzlei des Führers ein »Euthanasie«-Gesetz erarbeitet, weil viele Beteiligte immer wieder nach den gesetzlichen Grundlagen fragten. In dem Gesetz wurde, wie bei Binding und Hoche gefordert, Ärzten zum einen erlaubt, schwer kranke Patientinnen und Patienten auf deren ausdrückliches Verlangen hin zu töten, zum anderen das Leben von Kranken, »die infolge unheilbarer Geisteskrankheit sonst lebenslänglicher Verwahrung bedürfen […] durch ärztliche Maßnahmen unmerklich« zu beenden. 22 Das Gesetz wurde nicht erlassen, um den Fortgang der getarnten, in den Augen der Nationalsozialisten erfolgreichen Mordaktionen nicht zu gefährden.

Nach Protesten aus der katholischen Kirche und Teilen der Bevölkerung wurde die »Aktion T 4« im August 1941 gestoppt. Bis dahin waren ihr annähernd 70.000 Anstaltspatientinnen und -patienten zum Opfer gefallen. Das Tötungspersonal wurde in die neu geschaffenen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka in den östlichen besetzten Gebieten verlegt. »Eu­thanasie« und Holocaust hängen eng zusammen. Das praktische Wissen, das beim Massenmord an den Anstaltspatientinnen und -patienten erworben wurde, wurde ab 1941 für den Genozid an den europäischen Juden verwendet.23 Strittig wird heute aber diskutiert, ob dies auch der Grund für den offiziellen Stopp der »Euthanasie« war oder ob die genannten Proteste und die Beunruhigung der Bevölkerung oder auch das Erreichen eines ersten Planziels dafür ausschlaggebend waren.

In Hamburg trafen die Meldebögen der »Aktion T 4« im Juli 1940 ein.
Die Hamburger Gesundheitsbehörde unter Leitung Dr. Friedrich Ofterdingers (1896–1946) und seines Stellvertreters Dr. Kurt Struve (1902–1986) war über die geplanten »Euthanasie« - Maßnahmen informiert. Als die Meldebögen eintrafen, waren die Massenmordaktionen der »Aktion T 4« bereits in vollem Gange. Die Meldebögen wurden von der Gesundheitsbehörde im August 1940 an die Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn 24, an die Alsterdorfer Anstalten 25 und an die Verwaltung der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten 26 verteilt. Beigefügt wurde ein zusätzlicher Hamburger Meldebogen, der noch gezielter nach der »produktiven Arbeitsleistung« der Anstaltsinsassen fragte.

Die Hamburger Anstaltsleitungen wurden über den Sinn der Meldebögen und der damit verbundenen Maßnahmen ohne Umschweife informiert. Mitte 1941 erschienen Ofterdinger und Struve persönlich auf einer Langenhorner Ärztekonferenz und erklärten ganz offen den Sinn und das Ziel der Meldebögen und der bevorstehenden Abtransporte. In der Aussage von Knigge 1946 heißt es dazu:

»Dann eröffnete Dr. Ofterdinger den Ärzten, auf Grund der ausgefüllten Fragebögen würden auch für Langenhorn eine Anzahl unheilbarer Geisteskranker von der Berliner Zentrale ausgesucht werden. Diese würden aber nicht direkt zur Eutha­nasie verlegt werden, sondern es seien noch zwei Anstalten dazwischen geschaltet, in denen zuvor in der gewissenhaftesten Weise weiter beobachtet und dann endgültig begutachtet werde […] Um ganz sicher und gewissenhaft vorzugehen, ordnete Dr. Ofterdinger an, daß den Krankenakten der durch das Innenministerium ausgewählten Fälle noch eine Zusammenfassung des Befundes beizugeben sei. In dieser sollten noch einmal über Krankheitsart, Grad der Verblödung, Ausprägung des noch vor­handenen Lebenswillens u. a. gemäß den Binding-Hoche’schen Richtlinien berichtet werden. Sämtliche Ärzte kamen der zusätzlichen Anordnung des Senators pünktlich und ausführlich nach.«27

Auch in den Alsterdorfer Anstalten war man vollständig informiert. Pastor Friedrich Lensch (1898–1976), der Direktor der Anstalten, hatte Pastor Friedrich v. Bodelschwingh (1877–1946) in Bethel aufgesucht und war von ihm ausführlich über die »Euthanasie« informiert worden. Entsprechend einer Empfehlung v. Bodelschwinghs bat Lensch mehrmals um Zeitaufschub, veranlasste aber die Ärzte, für alle Behinderten den Meldebogen auszufüllen. Persönlich sortierte er dann im Januar/Februar 1941 die Meldebögen aus, die den Kriterien des Merkblattes der »T 4«-Zentrale entsprachen, und schickte diese nach Berlin. Er legte ein vorher deutlich schärfer formuliertes, auf Bitten des Alsterdorfer Vorstandes dann aber abgeschwächtes Memorandum bei, in dem es hieß, »daß die Angaben nur zu dem angegebenen wirtschaftlichen Zweck gegeben werden, und daß der Vorstand eine eigene Verantwortung von sich aus abweise, falls die Frage­bogen zu anderen Zwecken verwendet werden sollten«.28

Aus den Staatlichen Wohlfahrtsanstalten, in denen die Jahre davor immer wieder über die dem Charakter dieser Anstalten widersprechende Belegung mit »Geisteskranken« geklagt worden war, wurden trotz der Versuche des Leiters des ärztlichen Dienstes, Dr. Paul-Rudolf Biemann, von dieser Aufgabe entbunden zu werden, 363 Meldebögen von ursprünglich über 1.600 gemeldeten »Geisteskranken und Schwachsinnigen« an das Hauptgesundheitsamt geschickt.

Die ersten Transportlisten, die in Berlin von der »T 4«-Zentrale auf der Grundlage der Meldebögen zusammengestellt worden waren, trafen im Juli 1941 in Langenhorn und in Alsterdorf ein. Aber nur der erste Transport vom 10. Juli 1941, der 50 Männer aus Langenhorn umfasste und zunächst nach Königslutter kam, wurde wenig später nach Bernburg weitergeleitet, wo sich eine der Tötungsanlagen mit einer Gaskammer befand. 47 der 50 Männer wurden dort am 24./25. August 1941 durch Gas ermordet. Die nachfolgenden Transporte von Langenhorn, einschließlich des ersten großen Abtransportes aus Alsterdorf mit 50 Bewohnern und 20 Bewohnerinnen, die aufgrund der Listen aus Berlin zustande kamen und gemäß der Behördenanweisung zunächst nach Langenhorn kamen, gerieten dann aber in die Phase des »Euthanasie«-Stopps vom August 1941. Diese Transporte gingen nicht mehr in die Gastötungsanlagen. Die Betroffenen wurden aber dennoch Opfer der »Euthanasie«. Sie wurden in Königslutter und in der »Gau-Heilanstalt Tiegenhof« (Dziekanka) bei Gnesen/Gniezno im annektierten Teil Polens durch Hunger und Medikamente getötet.

18Der Begriff »graue Busse« ist heute zum Sinnbild der »Euthanasie«-Transporte geworden. Er stimmt nicht ganz mit der historischen Wahrheit überein. Für die Abtransporte wurden die tradi­tionell roten Busse der Reichspost benutzt. Erst etwa ab Mitte der »Aktion T 4« spritzte man die Busse im Luftschutz-Tarnanstrich grau.
19Zur Organisation der »T 4«-Zentrale vgl. Klee, Ernst (1983): »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt/M., S. 102 ff., S. 168 f.
20Vgl. Aly, Götz (1985): Medizin gegen Unbrauchbare, in: Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik Nr. 1, Berlin, S. 23, S. 26.
21Aly, Götz (1985), S. 26.
22Roth, Karl Heinz; Aly, Götz (1984): Das Gesetz über Sterbehilfe bei unheilbar Kranken, in: Roth (Hg.) Erfassung zur Vernichtung, Berlin.
23Ausführlich hierzu: Friedlander, Henry (1997): Der Weg zum NS-Genozid, Berlin, S. 468 ff. (Original: The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Capel Hill and London, 1995).
24Ausführlich: Rönn, Peter v. et al. (1993): Wege in den Tod. Hamburgs Anstalt Langenhorn und die Euthanasie in der Zeit des Nationalsozialismus, Hamburg.
25Ausführlich: Wunder, Michael; Genkel, Ingrid; Jenner, Harald (2016): Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Die Alsterdorfer Anstalten im Nationalsozialismus, Stuttgart.
26Ausführlich: Lohalm, Uwe (2010): Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg, München – Hamburg.
27Staatsarchiv Hamburg (StArHH), 213-12, 0017 (Sonderbände): Bl. 5.
28Archiv der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (ArESA), DV5: Vorstandsprotokolle, Sitzung vom 27. 1. 1941.

Der Abtransport der jüdischen Anstaltspatientinnen und -patienten

Der erste zentral aus Berlin angeordnete »Euthanasie«-Transport aus Hamburg kam aber nicht im Rahmen der Meldebogenerfassung zustande, sondern betraf die jüdischen Anstaltspatientinnen und -patienten. Zwar hatte die »T 4«-Zentrale erklärt, dass Juden von der »Wohltat des Gnadentodes« ausgeschlossen bleiben sollten, durch einen Erlass des Reichs­innenministers vom 30. August 1940 wurden im Sinne der Nürnberger Gesetze als Juden geltende Psychiatriepatientinnen und -patienten und Heimbewohnerinnen und -bewohner jedoch in wenigen Sammelanstalten zusammengezogen. Ihre Tötung wurde detailliert geplant. Für den norddeutschen Raum wurde Langenhorn als Sammelstelle vorgesehen.

Tatsächlich wurden am 23. September 1940 insgesamt 136 jüdische Patientinnen und Patienten, die aus den verschiedensten Einrichtungen in Hamburg und Schleswig-Holstein in Langenhorn zusammengezogen worden waren, unter Vorspiegelung falscher Verlegungsinformationen nach Brandenburg an der Havel gebracht. 135 wurden noch am selben Tag in der dortigen Gaskammer getötet. Im Notizbuch des verantwortlichen »Tötungsarztes«, Dr. Irmfried Eberl (1910–1948), in dem säuberlich alle Massentötungen in Brandenburg vermerkt sind, findet sich für den 23. September 1940 die Eintragung »Langenhorn J« 29. Es war der erste »Euthanasie«-Transport und gleichzeitig die erste Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Hamburg direkt in eine Gaskammer.30

29Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 631a Nr. 1611: Notizbuch Dr. Eberl.
30Ausführlich: Wille, Ingo (2017): Transport in den Tod. Die Ermordung jüdischer Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg, Berlin. Sowie: Jenner, Harald; Wunder, Michael (2016): Das Schicksal der jüdischen Bewohner der Alsterdorfer Anstalten, in: Wunder (2016), S. 247–268.

Die »Sonderbehandlung 14 f 13«

Ab April 1941 lief die »Sonderbehandlung 14 f 13« an, in der nicht mehr arbeitsfähige Konzentrationslager-Häftlinge erfasst und in die noch bestehenden Gastötungsanlagen der »Euthanasie« gebracht wurden. Ärzte­kommissionen bereisten die Lager und selektierten die Häftlinge. Der Begriff »Sonderbehandlung« steht für die Beseitigung eines Menschen ohne Justizverfahren, das Kürzel »14 f« für »Todesfall im KZ« und das Kürzel »13« für »Todesfall durch Vergasung«. Die »Sonderbehandlung 14 f 13« wurde bis Dezember 1944 betrieben und kostete 15.000 bis 20.000 KZ-Häftlingen das Leben.31 Anfang Juni 1942 wurden aus dem Konzentrations­lager Neuengamme in Hamburg 295 Häftlinge nach Bernburg transportiert und in der auch nach dem Stopp der »Aktion T 4« noch betriebenen Gaskammer getötet.32

31Burleigh (2002), S. 256 ff.
32Ausführlich: Ley, Astrid (2009): Vom Krankenmord zum Genozid. Die Aktion »14 f 13« in den Konzentrationslagern, in: Dachauer Hefte, 25, S. 36–49.

Die Neuplanung und Ausweitung der Anstaltsmorde: die zweite Phase der NS-Euthanasie

Die Zentrale der »Aktion T 4« wurde nach August 1941 nicht aufgelöst, sondern organisatorisch ausgebaut. Sie konnte die nun eintretende kurze »Denkpause« für neue planerische Aufgaben nutzen und ein flexibleres Konzept für die Fortführung der Aktionen erarbeiten. Im Oktober 1941 wurde Ministerialdirigent Dr. Herbert Linden (1899–1945) aus dem Reichsinnenministerium zum »Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten« ernannt, womit der ganze Apparat der verschiedenen halbstaatlichen »T 4«-Organisationen jetzt straffer der NS-Administration unterstellt wurde.

Das Konzept des im Verwaltungsstab der »T 4«-Zentrale arbeitenden Arztes Dr. Herbert Becker und des Wirtschaftsfachmanns Ludwig Trieb war, eine größere Differenzierung von therapierenden »Heileinrichtungen« und »reinen Verwahranstalten« für »abgelaufene Fälle« durchzusetzen. Im »Abschlußbericht über Planung, Hamburg vom 14.–17. 4. 1942« 33 wird von ihnen das in Hamburg schon seit der Auflösung der Staatskrankenanstalt Friedrichsberg bestehende Abstufungsprogramm zwischen den verschiedenen Anstalten lobend hervorgehoben. Während sich Langenhorn durch entsprechende Abtransporte von Patientinnen und Patienten noch mehr zu einer reinen »Heilanstalt« entwickeln sollte, sollten die Alsterdorfer Anstalten den »betonten Charakter einer Pflegeanstalt« 34 erhalten.

Der Fortgang der »Euthanasie« unterlag jedoch noch einer anderen Logik. Am 28. Juli 1942 wurde nach dem Ende der Blitzkriegshoffnungen und vor Beginn des »totalen Krieges« Karl Brandt zum »Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen« berufen, nur Hitler gegenüber verantwortlich und weisungsgebunden. War die erste Phase der »Eutha­nasie« bis August 1941 durch die ideologische Vorgabe der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« gekennzeichnet und die daran anschließende Phase durch eine planerische Denkpause und die Ausweitung auf soziale Probleme bestimmt, so wurden in der Mitte 1942 einsetzenden Phase der »Aktion Brandt« die Heil- und Pflegeanstalten zur disponi­blen Masse einer großräumigen katastrophenmedizinischen Planung.35

Die »Aktion Brandt« bestand in zentralen Empfehlungen und Planungen zur katastrophenmedizinischen Nutzung bestehender Einrichtungen, später auch dem Bau von Ausweichbaracken in weniger luftkriegsgefährdeten Gebieten bei weitgehend dezentralem Vollzug.36 Eingeführt wurde damit eine am jeweiligen regionalen Bedarf orientierte Verdrängung chronischer Patientinnen und Patienten oder Anstaltsbewohnerinnen und -bewohner zugunsten einer akutmedizinischen oder militärischen Nutzung der Gebäude. Damit wurde eine regional unterschiedlich starke Dynamik in Gang gesetzt, in entfernt gelegene Anstalten zu verlegen, wo dann je nach Überbelegung und der damit verbundenen Raumnot und spezifischer Gegebenheit vor Ort durch Vernachlässigung, systematische Unterernährung und überdosierte Medikamente getötet wurde.37 Die Einzelentscheidung über Verdrängung und Abtransport bestimmter Patientinnen und Patienten aus der Ursprungsanstalt sollten durchgehend auf der regionalen Ebene getroffen werden.

Die Phase der »Euthanasie« von 1942 bis 1945 als »wilde Euthanasie« zu bezeichnen, wie es nach der nur groben Rezeption des Nürnberger Urteils in der frühen Aufarbeitungsliteratur geschah, geht an dieser tatsächlichen Entwicklung vollständig vorbei. Die Gesamtzahl der Opfer nach August 1941 lässt sich bis heute nicht mit Sicherheit angeben. Viele Autoren gehen von einer Opferzahl von 100.000 aus, andere schätzen bis zu 275.000 Opfer.38

In Hamburg gab es katastrophenmedizinische Verdrängungs­planungen schon lange vor 1942. Menschen mit Behinderung oder psychischer Krankheit und alte Menschen in Heimen waren in Hamburg frühzeitig nur noch »Platzhalter« 39, bis ihre Häuser oder Heime für Hilfskrankenhäuser, Verwaltungszwecke, Lazarette oder Lagerplätze gebraucht wurden. So wurde die Verlegung von 311 Patientinnen und Patienten von Langenhorn nach Rickling gleich nach Kriegsbeginn mit dem Aufbau von 389 Hilfskrankenhausbetten begründet.

Massenverlegungen in außerhamburgische Einrichtungen gab es allerdings schon lange vor 1939. So wurden bereits 1931 die ersten Patientinnen und Patienten aus Langenhorn nach Strecknitz/Lübeck mit der Begründung verlegt, dass sie nur noch der billigeren Verwahrung bedürften. 1935 folgten Rickling, ab 1941 Lüneburg, Neustadt/Holstein, Wahrendorff’sche Privatanstalt Ilten bei Hannover und Privatanstalt Lie­ben­burg bei Goslar und ab 1942 Kropp bei Schleswig. Ab Kriegs­beginn mischten sich in Hamburg die Selektion der »Unbrauchbaren« und die katas­trophenmedizinisch begründeten Verlegungen.

Die unzähligen vor und nach Kriegsbeginn in diese Ausweichanstalten abgeschobenen Hamburger Patientinnen und Patienten wurden in zunehmendem Maße Opfer der »Euthanasie«. Zum einen verschlechterten sich die Verhältnisse in den Ausweichanstalten unter den Kriegsbedingungen dramatisch, sodass es fast überall zu einer hohen Sterblichkeit kam. Außer­dem waren die Hamburger Patientinnen und Patienten in den meisten dieser Anstalten in besonderem Maße von der Selektion für den Abtransport in Tötungsanstalten betroffen. So wurden die 395 Hamburger Patientinnen und Patienten aus den sogenannten Hamburg-Häusern in Strecknitz/Lübeck, als diese im September 1941 geräumt wurden, nach Weilmünster und Eichberg abtransportiert, wo sie durch Aushungern und Medikamente getötet wurden.

Mitte 1941 hatten Gesundheits- und Sozialverwaltung offiziell ein Abkommen geschlossen, in dem festgestellt wurde, dass wegen der luftkriegsgefährdeten Lage Hamburgs eine Bettenreserve in den Anstalten geschaffen werden müsse. Wörtlich hieß es dann: »Es ist daher eine Verlegung von Insassen der Wohlfahrtsanstalten, der Alsterdorfer Anstalten wie der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn nach außerhamburgischen Anstalten unvermeidbar. Die Einheitlichkeit der Verlegung soll dadurch gewahrt werden, daß sie der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn übertragen wird.« 40 Dies war gleichzeitig der Versuch, Langenhorn als zentrale »Drehscheibe« der »Euthanasie« in Hamburg zu organisieren.

Langenhorn sah sich durch die von der Gesundheitsverwaltung veranlassten enorm hohen Aufnahmezahlen und die voranschreitende Umwidmung von Psychiatriebetten in Hilfskrankenhausbetten gezwungen, ständig bei der Gesundheitsbehörde um weitere Abtransporte zu ersuchen und diese dann selbst zusammenzustellen. Im März 1942 bat Langen­horn um die Genehmigung permanenter Verlegungstätigkeit: »Es wird gebeten, 39 [Behörden-Abkürzung für Langenhorn, d. V.] die Genehmigung für die schon ausgeführten Verlegungen und für die in Zukunft noch auszuführenden Transporte zu erteilen.« 41 Struve vermerkt auf dem Brief: »keine Bedenken«. Ende 1942 wies Struve die Langenhorner Verwaltung direkt an, Listen für die Verlegung auszusondernder Patienten zu erstellen, um »eine freie Bettenreserve für Körperkranke, für Verwundete und Bombenopfer« zu schaffen.42 Und in einem Vermerk Struves auf eine Langenhorner Anfrage für Verlegungen nach Meseritz-Obrawalde heißt es: »Es ist ein Typus von Kranken zu wählen, der bei sorgfältigster und zurückhaltendster Beurteilung in Zusammenarbeit mit der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH seinerzeit nach Königslutter verlegt wurde.« 43

Wie die Selektion innerhalb von Langenhorn geregelt war, geht aus Zeugenaussagen der beteiligten Ärzte und Pfleger nach Kriegsende hervor. »Wenn solch eine Verlegungsanweisung der Gesundheitsbehörde bei uns eintraf, die die Gesamtzahl der zu verlegenden Patienten enthielt, einigten wir uns unter den Langenhorner Kollegen, wie viele Patienten aus jeder Abteilung verlegt werden sollten« 44, heißt es in der Aussage des Arztes Martin Lua. Der Pfleger Heinrich Roßburg führte zum Verfahren aus: »Die Auswahl der Patienten erfolgte durch die Oberpfleger und die Ärzte begutachteten dann die Fälle. Die Oberpfleger legten natürlich bei der Verlegung Gewicht darauf, daß die sogenannten guten Arbeiter, die wir hier gebrauchen konnten, möglichst hier blieben.« 45

Forschungsergebnisse belegen, dass bei der Selektion in Langenhorn schlechte oder nicht verwertbare Arbeitsleistungen im Vordergrund standen. Darüber hinaus spielten ein höherer Pflegeaufwand, auffälliges Verhalten und fehlende Angehörigenkontakte eine Rolle. Eine schlechte Arbeitsleistung war aber auch dann meist entscheidend, wenn der Pflege­aufwand gering war und ein angepasstes Verhalten vorlag und keine besonderen Angehörigenkontakte bestanden. Patientinnen und Patienten mit schlechter Arbeitsleistung wurden in Langenhorn in der Regel nur dann behalten, wenn ihr Tod absehbar war oder aktive Angehörigenkontakte bestanden, was die erhöhte Todesrate in Langenhorn selbst erklärt.46 Selektions- und Bleibe-Entscheidungen entsprachen somit über­wiegend der klaren und zweckrationalen Wertbestimmung des Menschen als Arbeitskraft und der Abschätzung des Aufwandes für die Pflege und Betreuung und die Vertuschung und Geheimhaltung gegenüber aktiven Angehörigen.47 Da – abgesehen von der Kinderfachabteilung – in Langen­horn keine Patientinnen und Patienten ermordet wurden, sind in Langenhorn verstorbene Patientinnen und Patienten nicht in dieses Gedenkbuch aufgenommen, obwohl sie zweifelsohne unter sehr schlechten Bedingungen lebten und starben. Dies gilt auch für die Bewohnerinnern und Bewohner der Alsterdorfer Anstalten.

Im Laufe der Entwicklung lässt sich für Langenhorn die Einbeziehung immer weiterer Patientengruppen in die Abtransporte nachweisen. In den Transporten nach der Bombardierung im Sommer 1943 befindet sich auch eine Reihe verwirrter ausgebombter Frauen, sogenannte »Bomben­verwirrte«. Dem Transport nach Scheuern am 7. August 1943 wurden acht psychisch erkrankte Wehrmachtsangehörige mitgegeben. Auch wurden ab 1942 psychisch kranke russische und polnische Zwangsarbeiter in die Abtransporte einbezogen.48 Am 3. November 1944 gab es einen speziellen Abtransport psychisch kranker Zwangsarbeiter nach Schleswig.

Eine zumindest vorübergehende Zurückstellung von der Selektion erfolgte für Patienten, die Teil der Malaria-Forschung waren, die das Tropeninstitut im Auftrag der Wehrmacht in Langenhorn durchführte. Langenhorner Patienten wurden für diese Versuche dem Malaria-Erreger ausgesetzt und während der anschließenden Behandlung und Beobachtung von der Selektion ausgeschlossen, danach allerdings der Selektion preisgegeben. »Es wird gebeten«, heißt es in einem Schreiben des Tropen­instituts vom 7. Juni 1943, »daß ein Abtransport der im Versuch befindlichen Personen nur nach Freigabe seitens Frl. Steinböhmer, welche automatisch nach Abschluß der Einzelbeobachtung erfolgen soll, vorgenommen werden darf.« 49

Eine weitere besondere Gruppe waren die nach § 42 in Langenhorn untergebrachten psychisch kranken Rechtsbrecher, meist als »Sicherungsverwahrte« bezeichnet, über die ein Streit zwischen Justiz und Gesundheitsbehörde entbrannte. Da die Betroffenen meist gute Arbeitskräfte waren, wollte sie jeder haben. Schließlich setzte sich Langenhorn durch und durfte sie als Arbeitskräfte behalten. Sicherheitsverwahrte finden sich nur selten auf den Selektionslisten, wahrscheinlich weil die Betroffenen um die Zusammenhänge wussten und mit ihrer Arbeitsleistung gegen die Selektion ankämpften.

In den Alsterdorfer Anstalten lag ab 1942 eine zentrale Absichtserklärung zur Räumung zu kriegswichtigen Zwecken vor, deren Umset­zung aber nicht von der Behörde erfolgte, sondern in einer Art vorauseilendem Gehorsam von der Alsterdorfer Anstaltsleitung selbst ausgelöst wurde. Nach den Bombardierungen im Sommer 1943 wurde die Teilräumung der Anstalt, obgleich keine Aufforderung der Behörde dazu erging, in die Praxis umgesetzt. Eine Verlegung der Anstaltsinsassen in das anstaltseigene Gut Stegen vor den Toren der Stadt wurde dabei ebenso wenig erwogen wie das Anrufen der Hilfe der Anstalten der Inneren Mission, mit denen man auch ansonsten in Kontakt stand. Zwar konnten in 59 Fällen aktive Angehörige, die unmittelbar nach den Bombennächten erfolgreich die Entlassung ihrer Familienmitglieder nach Hause verlangten, deren möglicher Deportation zuvorkommen. Die Anstaltsleitung unternahm aber von sich aus nichts, andere Angehörigen zu informieren, auch solche nicht, die sich vorher bereit erklärt hatten, ihre Familienmitglieder aufzunehmen, aber nach den Bombennächten nicht von sich aus vorstellig wurden. 393 Kinder, Frauen und Männer wurden im Juli und August 1943 nach Idstein/Kalmenhof, Eichberg, Mainkofen bei Deggendorf und Wien deportiert. Auch in Alsterdorf wurden von den Anstaltsärzten die Arbeitsunfähigen und »Schwächsten der Schwachen« ausgesucht, wie aus den gründlich erforschten Unterlagen hervorgeht. Die Gesundheitsverwaltung mit ihren guten Kontakten zur »T 4«-Zentrale vermittelte auf Bitten Alsterdorfs diese Transporte, wenngleich diese, wie Pastor Lensch in den Vernehmungen nach dem Krieg zugab, wegen der raschen Evakuierungen der Ausgebombten in die ländlichen Gebiete außerhalb Hamburgs zumindest aus Platzgründen zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr nötig gewesen seien.50

Auch aus den Staatlichen Wohlfahrtsanstalten erfolgten Massenver­legungen in Ausweichanstalten mit sehr schlechten Bedingungen oder in Anstalten, in denen durch systematische Unterernährung und Medi­kamente getötet wurde. So wurden bereits im März 1941, kurz vor der Meldebogenerfassung, 200 Patientinnen und Patienten, die seinerzeit im Rahmen der Auflösung Friedrichsbergs in die Verwahranstalten gekommen waren, nach Meseritz-Obrawalde verlegt und im Mai 1941 weitere 149 in die für die Tötungsanlage Grafeneck fungierenden Zwischenanstalten Schussenried und Zwiefalten in Württemberg. Weitere Verlegungen erfolgten auch nach Rickling. Die 1942 verlegten 728 Heimbewohnerinnen und -bewohner, die in weit entfernte Anstalten in Nieder­österreich und in der Steiermark sowie nach Burgkunstadt in Bayern und Kropp bei Schleswig kamen, wurden dagegen nicht Opfer der »Euthanasie«. Auch die weiteren ab 1943 einsetzenden Verlegungen in das von Hamburg errichtete »Versorgungsheim Kropp« fallen nicht hie­runter. Die nach der Bombardierung Hamburgs in zwei Transporten nach Neuruppin in Brandenburg verlegten nahezu 600 Heimbewohnerinnen und -bewohner wurden dagegen zum großen Teil Opfer der »Euthana­sie«. Die Transporte nach Neuruppin zeichnen sich durch Desorganisa­tion und besondere Grausamkeit gegenüber den Betroffenen aus. Da die Patientinnen und Patienten größtenteils nicht mehr in Neuruppin, das mittlerweile als Ausweichanstalt für Berlin fungierte, bleiben oder aufgenommen werden konnten, wurden diese oft völlig pflegeabhängigen Patientinnen und Patienten teils nach langem Warten in den Eisenbahnwaggons auf verschiedenste Quartiere und Anstalten verteilt oder kamen von Neuruppin in vielen Fällen auch in Tötungsanstalten. Eine Reihe von Patientinnen und Patienten starb bereits während des Transports. Das Schicksal vieler Betroffener lässt sich aber bis heute nicht aufklären.

33Bundesarchiv Berlin, R 96 I, 15: Abschlußbericht über Planung in Hamburg vom 14.–17. 4. 1942 von Dr. Becker und Trieb.
34Ebd., Bl. 4.
35Ausführlich: Schmuhl, Hans-Walter (1992): Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, Göttingen, S. 230 ff.
36Es gibt mehrere Hinweise in der Literatur, dass in einigen »Krankenhaus-Sonderanlagen der Aktion Brandt« auch körperlich kranke Patienten vom behandelnden Krankenhauspersonal, also außerhalb der Psychiatrie, ermordet wurden – etwa in Köppern im Taunus und in Huntlosen bei Oldenburg; vgl. Faulstich, Heinz (1998): Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949, Freiburg, S. 593 ff.
37In der Geschichtsforschung wird die Entwicklung der »Euthanasie« in der Zeit nach August 1941 kontrovers diskutiert. Zum einen wird die Hypothese der zentralen Koordination vertreten, die durch die wiedererstarkte »T 4«-Zentrale, eng verknüpft mit den katastrophenmedizinischen Verdrängungsplanungen der »Aktion Brandt«, betrieben werde (vgl. u. a. Schmuhl [1992]: Rassenhygiene, S. 230–233), zum anderen die Hypothese der lokalen und regionalen, sich zunehmend radikalisierenden Akteure, die unabhängig von der »T 4«-Zentrale agierten (vgl. u. a. Rönn, Peter v. [1991]: Auf der Suche nach einem anderen Paradigma. Überlegungen zum Verlauf der NS-Euthanasie am Beispiel der Anstalt Langenhorn, in: Recht und Psychiatrie, 2, S. 50–56). Gemeinsam ist beiden Hypothesen, dass sie die zunehmende Radikalisierung mit den Folgen der Kriegsentwicklung erklären. Dass die Erklärungsansätze nicht unvereinbar sind, zeigt das Beispiel Hamburg.
38Die Opferzahl von 100.000 wird z. B. geschätzt von Wollasch, Hans-Joseph (1980): Caritas und Euthanasie im Dritten Reich, in: Dörner, Klaus et al. (Hg.): Der Krieg gegen die psychisch Kranken, Rehburg-Loccum, S. 70. Die Zahl 275.000 findet sich in Unterlagen des Internationalen Militärgerichtshofs von Nürnberg, vgl. »Les Medicines de la Mort«, Genf, Bd. 1, S. 5, S. 77 ff. und Bd. 4, S. 129 ff. Einschlägig auch: Faulstich (1998), insbesondere S. 582 ff.
39Aly, Götz (1985): Anstaltsmord und Katastrophenmedizin 1943–1945 – Die »Aktion Brandt«, in: Dörner, Klaus (Hg.): Fortschritte der Psychiatrie im Umgang mit Menschen , Rehburg-Loccum, S. 33–55, hier S. 42.
40StArHH, 351-10 I Sozialbehörde I, GF.32.31: Kostenregelungen bei Verlegungen von Anstalts­insassen nach außerhalb – Luftschutzmaßnahmen. Ofterdinger an Martini 24. 6. 1941.
41StArHH, 351-10 I Sozialbehörde I, GF.32.31: Bl. 16.
42StArHH, 213-12, 0013, Anklageschrift: S. 620.
43StArHH, 213-12, 0013, Beiakten: S. 230.
44StArHH, 213-12, 0013, Sonderband 1/ 2: S. 15.
45StArHH, 213-12, 0013, Sonderband 1/ 2: S. 20.
46So betrug die jährliche Sterblichkeit der psychiatrischen Patienten in Langenhorn 1942 12,5 %, 1943 10,4 %, 1943 17,7 % und 1944 20,5 %.
47Ausführlich: Wunder, Michael (1992): Euthanasie in den letzten Kriegsjahren. Die Jahre 1944 und 1945 in der Heil- und Pflegeanstalt Hamburg-Langenhorn, Husum.
48StArHH 352-7/8, 173: Verlegungen nach Anstalten, Zusammenstellung der Anzahl verlegter Geisteskranker vom 31. 5. 1947.
49StArHH, 213-12, 0013, Beiakten: S. 48.
50Wunder (2016), S. 285.

Die NS-Euthanasie in Hamburg:
dezentral und effektiv

Zwei für die NS-Euthanasie typische Merkmale lassen sich an der Entwicklung in Hamburg, das wie die anderen nördlichen Regionen des Deutschen Reichs erst relativ spät von Berlin in die laufende »Aktion T 4« einbezogen wurde, herausstellen.

Die katastrophenmedizinische Verdrängung der Psychiatriepatientinnen und -patienten zugunsten von kriegswichtigen Hilfskrankenhauszwecken wurde in Langenhorn schon seit Kriegsbeginn und lange vor der zentralen Planung Berlins zur Umnutzung von Anstalten und Heimen in Gang gesetzt. Hatte Langenhorn 1939 noch 2.359 Psychiatrie- und 389 Hilfskrankenhausbetten, so hatte es 1945 nur noch 1.192 Psychia­trie-, dafür aber 1.717 Hilfskrankenhausbetten. 1943 wurde Langenhorn Allgemeines Krankenhaus und blieb das auch nach 1945.

Katastrophenmedizinische Verdrängungsplanungen als Grund für Verlegungen lassen sich in Hamburg auch für die Staatlichen Wohlfahrtsanstalten und die evangelischen Alsterdorfer Anstalten nachvollziehen. So werden die ersten Verlegungen aus den Wohlfahrtsanstalten 1941 mit dieser Umnutzung zur allgemeinen medizinischen Versorgung begründet, wenngleich in bestimmten Häusern auch die luftschutzbedingte Räumung von Dachböden oder Obergeschossen, die im Rahmen der Überbelegung vorschriftswidrig für die Patientenpflege genutzt wurden, eine Rolle gespielt haben. Ab 1943 ist der Grund für die Massenverlegungen aus den Wohlfahrtsanstalten aber auch aus den vielerorts entstandenen erheblichen Schäden durch die Bombardierung zu sehen.

Im Falle der Alsterdorfer Anstalten, die nur wenige Bombenschäden hatten, wird die Massenverlegung 1943 hingegen explizit mit der Umnutzung für Kriegszwecke begründet, auch wenn dieser Grund dafür zur Zeit der Abtransporte nicht mehr gegeben war. Sich des »unproduktivsten Teils« der Bewohnerinnen und Bewohner zu entledigen, stand hier nach allen heutigen Erkenntnissen im Vordergrund.

Auch das zweite besondere Merkmal der Entwicklung der NS-Eutha­nasie, die im fortlaufenden Prozess sich entwickelnde dezentrale Durchführung, lässt sich für Hamburg eindrucksvoll belegen. Die Kontingentzahlen für benötigte Hilfskrankenhausbetten in Langenhorn wurden von der Behörde vorgegeben, die Auswahl der abzutransportierenden Patientinnen und Patienten den jeweils für die Häuser zuständigen Ärzten, letztlich den Oberpflegern überlassen. Dadurch wurde der Verdrängungs- und Selektionsprozess äußerst effektiv durchgeführt. Die bereits in der zentral angeordneten ersten Phase der »Euthanasie« vorhandenen, dort aber noch durch die klinischen Diagnosen abgeschwächten Krite­rien der Arbeitsfähigkeit und der Höhe des Betreuungs- und Behandlungsbedarfs setzten sich bei der dezentralen Durchführung durch das Zutun vieler Akteure durch. Zu beobachten ist auch eine Radikalisierung dieses Prozesses, indem immer weitere Gruppen – wie etwa psychisch erkrankte Wehrmachtsangehörige, durch Bombenschaden verwirrte Personen oder kranke Ostarbeiter – in die Selektion einbezogen wurden. Wenn auch weniger geordnet als in Langenhorn, ist die Selektion der »Schwächsten der Schwachen« auch für die direkt aus den Wohlfahrtsanstalten und aus Alsterdorf verlegten Betroffenen nachweisbar.51

Eine darüber hinausgehende Hamburger Besonderheit ist die offene Informationspolitik innerhalb der agierenden Instanzen und Einrichtun­gen. Die Information der Einrichtungsleiter 1941 und die Information Ofterdingers und Struves auf der Ärztekonferenz Langenhorn dokumentieren ein zwar immer noch der Amtshierarchie verpflichtetes Verwaltungshandeln, aber durchaus auch das moderne Element der verpflichtenden Partizipation durch vollständige Information. Der Erfolg, das widerspruchs­lose Mitmachen der Langenhorner Ärzte und die voraus­eilende Erledigung einer nur in den Raum gestellten vielleicht notwendi­gen Teilräumung in Alsterdorf geben den Behördenverantwortlichen recht. Zugespitzt könnte man deshalb auch von »Korruption durch Informa­­tion« als Variante eines modernen Organisationsmanagements sprechen.

51Lohalm, Uwe (2016): »Es gibt in Deutschland sicherlich keine Stelle, die eine solche Menge brüchiger und unterwertiger Menschen mit einer so kleinen Schar von Stationskräften bewahrt.« Zur Entwicklung der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten in Hamburg 1933–1945, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 17, S. 81–95. Wunder, Michael (2016): Der Exodus von 1943, in: Wunder (2016), S. 283–372.

Die Entwicklung nach 1945

»Bis heute sind die ‚Euthanasie‘-Morde in Hamburg ungesühnt«, stellte 1984 der gegen Lensch und Struve Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre ermittelnde Staatsanwalt, Dr. Dietrich Kuhlbrodt (geb. 1932), fest.52 Dies ist bis heute so.53

Die beiden großen NS-Verfahren zu den »Euthanasie«-Verbrechen in Hamburg – 1946 gegen die Langenhorner Ärzte Knigge, Wigand Quickert (1876–1961) und andere sowie 1948 gegen die Ärzte Bayer, Werner Catel (1894–1981) und 16 weitere wegen der »Euthanasie« an Kindern – wurden niedergeschlagen, ohne dass es zu Gerichtsverhandlungen kam. Den Tätern habe, so hieß es in der Begründung, das Unrechtsbewusstsein gefehlt. Sie hätten sich in einem »Verbotsirrtum« befunden. Die Rechtswidrigkeit ihres Tuns sei ihnen damals nicht bekannt gewesen.54 Die Richter, die die Einstellungen verfügten, waren zum Teil selbst aktive Nationalsozialisten gewesen. So etwa Heinrich Hallbauer (1905–?), der sich im Krieg durch eine Reihe von Todesurteilen gegen tschechoslowakische Bürger am Sondergericht Prag hervorgetan hatte, oder Enno Budde (1901–1979), der als hoher NS-Funktionär Verfasser zahlreicher »Blut-und-Boden-Schriften« war, nach 1945 Landgerichtspräsident in Hamburg wurde und von 1947 bis 1959 auch im Vorstand der damaligen Alsterdorfer Anstalten saß.

Viele der nicht belangten Ärzte konnten nach Kriegsende weiterhin arbei­ten. So praktizierten Bayer bis in die 1960er Jahre als Kinderarzt und Kreyenberg als niedergelassener Allgemeinarzt mit Belegbetten im Evangelischen Krankenhaus Alsterdorf.

Um die Frage der Aberkennung der Approbation dieser Ärzte gab es Anfang der 1960er Jahre noch einmal eine öffentliche Auseinandersetzung, nachdem neues Belastungsmaterial vorgelegt worden war und die Wiederaufnahme der Verfahren gefordert wurde. In einer gemeinsamen Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Hamburger Ärztekammer vom 11. Januar 1961 hieß es damals zur Verteidigung der beschuldigten Ärztinnen und Ärzte, dass sie »unter den damaligen Umständen keine schweren sittlichen Verfehlungen« 55 begangen hätten. Im Übrigen hätten sie in ihrem Beruf »seit jener Zeit einwandfrei gearbeitet«, sodass keine Veranlassung bestehe, ihnen die Eignung und Zuverlässigkeit für ihre Berufstätigkeit abzusprechen.

Einige der ärztlichen Täter wurden in den 1950er und 1960er Jahren bei Wiedergutmachungsverfahren, die Opfer insbesondere bei erlittener Zwangssterilisation angestrengt hatten, als Gutachter herangezo­gen. Was die Opfer bei diesen neuerlichen Begutachtungen durch ihre ehemaligen Peiniger an Demütigungen durchlebt haben, wird heute mit den Begriffen »zweiter Opfergang« und »Retraumatisierung« beschrieben.56

Die nicht ärztlichen Täter wurden ebenfalls nicht belangt. Struve machte nach der Einstellung des Verfahrens zur »Kindereuthanasie« 1949, in dem auch er angeklagt war, Karriere in der Hamburger Verwaltung. Er wurde Regierungsdirektor und gehörte in den 1960er Jahren dem Planungsstab der Senatskanzlei an. Pastor Lensch erhielt durch Vermittlung der Hamburgischen Landeskirche und der Familie Reemtsma eine Pfarrstelle im Bereich der schleswig-holsteinischen Landeskirche in Hamburg-Othmarschen, wo er bis 1976 als Gemeindepastor wirkte. Der Versuch der Hamburger Staatsanwaltschaft, in den 1960er Jahren eine Anklage wegen Beihilfe zum Mord gegen Lensch und Struve zu erheben, scheiterte. Das Landgericht Hamburg lehnte, ebenso wie das Oberlandesgericht, 1974 die Eröffnung eines Verfahrens ab. Die Erklärung von Lensch, über die Zielorte der Verlegungen nicht informiert gewesen zu sein, reichte für die juristische Unschuldserklärung.

Zwangssterilisierten und überlebenden »Euthanasie«-Geschädigten wurde in der Bundesrepublik bis 1980 jegliche Entschädigung als NS-Opfer mit der Argumentation verweigert, dass ihr Leid »kein typisches NS-Unrecht« sei und sie somit nicht unter den § 1 des Bundes­entschädigungsgesetzes (BEG) – Verfolgung aus Gründen der Rasse – fallen würden. 1980 bot man den Zwangssterilisierten eine Einmal­zahlung von 5.000 DM nach einer Härteregelung des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes unter der Bedingung an, dass bei Antragstellung damit alle weiteren Ansprüche abgegolten seien. Erst 1994 erklärte der Deutsche Bundestag NS-Zwangssterilisationen als solche, nicht aber das zugrunde liegende »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« (GzVeN), zu NS-Unrecht. Den Opfern zollte man »Achtung und Mitgefühl«. 1998 beschloss man im »NS-Unrechtsaufhebungsgesetz« die Aufhebung der Erbgesundheitsgerichtsurteile und 2007 die Ächtung des Gesetzes selbst. Den Opfern wurden aber lediglich weitere außergesetzliche Härte­leistungen zuerkannt.

In Hamburg wurde 1983 die »Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes« gegründet, die den wenigen noch lebenden Betroffenen Beratung und Unterstützung anbietet. 1988 wurde die »Landesstiftung Hilfe für NS-Verfolgte« gegründet, die aus Mitteln des Hamburger Senats Härteleistungen für NS-Opfer auszahlt, die, wie die Überlebenden der Zwangssterilisation und »Euthanasie«, keine oder keine ausreichende Entschädigung erhalten hatten.

Eine Anerkennung des Erbgesundheitsgesetzes als NS-Unrecht und damit eine offizielle Anerkennung der Zwangssterilisierten und überlebenden »Euthanasie«-Geschädigten als Verfolgte des Nationalsozialismus und ihre Gleichstellung mit den anderen im Bundesentschädigungsgesetz genannten Verfolgtengruppen erfolgten bis heute nicht.

52Kuhlbrodt, Dietrich (1984); »Verlegt nach … und getötet«. Die Anstaltstötungen in Hamburg, in: Ebbinghaus (1984), S. 156–161.
53Ein guter Überblick über die Strafverfolgung von »Euthanasie«-Verbrechen im Nationalsozialismus findet sich auf der Website gedenkort-t4.eu; http://gedenkort-t4.eu/de/gegenwart/strafverfolgung-der-taeter (29. 4. 2017).
54StArHH, 213-12, 0017: Strafsache 14.
55Kein Verfahren gegen Ärzte – Erklärung zum Euthanasie-Fall Rothenburgsort, in: Hamburger Echo vom 12. Januar 1961.
56Romey, Stefan (1986): Zu Recht verfolgt?, in: Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes (Hg.): Verachtet, verfolgt, vernichtet, Hamburg, S. 220–245, hier S. 239.