Vorwort Olaf Scholz
Hamburg schließt in sein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus alle ein: die Opfer der politischen Verfolgung und des Holocausts, die Opfer des Bombenkriegs, der Flucht und der Vertreibung und die viel zu lange vergessenen Opfer, die Homosexuellen, die Roma und Sinti, die Deserteure, die Opfer der Zwangssterilisationen und der Mordaktionen, die sich mit dem Wort »Euthanasie« tarnten. Bisher gab es jedoch nur wenige öffentlich sichtbare Zeugnisse der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer der »Euthanasie«-Verbrechen, obwohl sie in Hamburg Tausende zählten. Zwar finden sich Gedenksteine und Informationstafeln auf den Klinikgeländen in Alsterdorf und Ochsenzoll, auch zeugen viele »Stolpersteine« fast überall in der Stadt von einzelnen Opfern, die nur deshalb ermordet wurden, weil sie in nationalsozialistischer Zeit als »erbminderwertig« und »lebensunwert« galten. Es fehlten aber ein zentraler Informationsort und eine Würdigung aller Opfer der NS-Euthanasie.
Mit diesem Buch setzen wir ein Zeichen. Damit ehrt Hamburg mehr als 4.700 Frauen, Männer und Kinder, die im Zuge der NS-Euthanasie in den Jahren 1939 bis 1945 getötet wurden. Das Buch gedenkt dieser Opfer, indem jede und jeder Einzelne mit seinem Namen aufgeführt wird. Wer die Namen liest und die wenigen, aber doch so eindringlichen Daten der Geburt, der Aufnahme in eine Anstalt oder in ein Heim, des Abtransports und schließlich des Todes in einer Anstalt, in der mit Gas, mit Hunger, mit Medikamenten und manchmal einfach nur durch Vernachlässigung getötet wurde, ist beschämt und betroffen. Das Buch vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß an Willkür und Gewalt, denen schutz- und hilfsbedürftige Menschen ausgesetzt waren.
Das »Hamburger Gedenkbuch Euthanasie. Die Toten 1939–1945« ist Teil eines Gesamtprojektes der Freien und Hansestadt Hamburg zum Gedenken an die Opfer der NS-Euthanasie. Es umfasst die Einrichtung einer Dauerausstellung im Medizinhistorischen Museum Hamburg des Universitätsklinikums Eppendorf zu den Behinderten- und Krankenmorden, die Aufstellung von Informationsstelen an dem zentralen Ort der staatlich organisierten »Euthanasie«-Verbrechen in Hamburg, der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn (heute Asklepios Klinik Nord – Ochsenzoll) sowie weitere Kennzeichnungen an historischen Orten. Mit diesem Gesamtprojekt schließt Hamburg endlich eine Lücke im Gedenken an diese Opfer.
Gerade die Geschichte der NS-Euthanasie und ihrer mörderischen Logik der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« muss uns heute eine klare und wichtige Lehre sein, jedes Leben zu achten, die Rechte aller Menschen zu respektieren, gerade auch jener, die mit Beeinträchtigungen leben müssen.
Ich hoffe, dass viele dieses Buch und die entsprechende Website nutzen, sei es, um Familienangehörige zu finden, über die es bisher im Familienkreis nur Andeutungen gab, oder einfach um sich über diesen Teil unserer Geschichte zu informieren, deren Erinnerung für die humane und friedliche Gestaltung der Zukunft so wichtig ist.
Mein Dank gilt allen, die sich in der Vergangenheit und Gegenwart für die Erinnerung an die Hamburger Opfer der NS-Euthanasie eingesetzt haben. Für die Erarbeitung des Gedenkbuches danke ich Michael Wunder und Harald Jenner sowie Hildegard Thevs stellvertretend für die weiteren Beteiligten.
Olaf Scholz
Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg