Vorwort Ingrid Körner
Aus heutiger Sicht, mehr als 70 Jahre nach dem Ende der schrecklichen Geschehnisse der NS-Zeit, ist kaum noch begreifbar, was damals geschehen ist.
Eltern gaben ihre kranken und behinderten Kinder oder Angehörigen in ein Heim oder eine Anstalt, weil ihnen Ärzte und Pfleger versicherten, dass den Menschen dort geholfen werde und es ihnen besser gehen werde. Welch Schock für Eltern und Verwandte, wenn ihnen nach einiger Zeit mit einem kurzen Brief mitgeteilt wurde, »dass ihr Kind aus Kriegsgründen verlegt« und wenig später dass ihr Kind gestorben sei, zumeist an Lungenentzündung. Welch hinterlistige Verlogenheit von Ärzten, Heimbetreibern und Mitarbeitern in den Verwaltungen, die es besser wussten: Kranke oder behinderte Menschen wurden mit grausamen Mitteln gequält und ermordet.
Für mich als Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen ist dieses Gedenkbuch besonders wichtig, weil es den vielen Opfern dieser menschenverachtenden Zeit einen Namen und ein würdiges Gedenken gibt. Es trägt dazu bei, den Hamburger Bürgerinnen und Bürgern heute und für die Zukunft deutlich zu machen, welche Verbrechen in ihrer Stadt im Rahmen der NS-Euthanasie von 1939–1945 begangen wurden und wie es passiert ist. Niemand soll unwissend bleiben.
Aus meiner persönlichen Familiensituation als Mutter einer geistig behinderten Tochter habe ich die Verpflichtung, alles zu tun, damit so etwas nie wieder geschehen kann. Die Isolierung von Menschen mit Behinderung in großen, geschlossenen, weit entfernten und damals kaum erreichbaren Anstalten und damit die vollständige Trennung von der Familie, den Freunden und Nachbarn hat mit dazu beigetragen, dass so etwas über Jahre möglich war. Diese Ausgrenzung erleichterte einen ungestörten, tödlichen Zugriff auf Menschen, die doch eigentlich unsere besondere Unterstützung benötigen.
Es ist gut, dass Eltern sich nach dem Krieg in einer neu gegründeten Selbsthilfe bewusst aus dem Dunkel der Vergangenheit befreit haben und sich kraftvoll für die Rechte ihrer behinderten Kinder einsetzen, allen Vorbehalten und Vorurteilen zum Trotz. Heute arbeiten wir daran, eine inklusive Gesellschaft zu werden, in der Menschen mit und ohne Behinderung Tür an Tür miteinander leben und Worte wie »unnötiger Esser« oder »lebensunwert« keine Anwendung mehr finden können. Nähe und Teilhabe am Schicksal anderer öffnen Herz und Verstand für Menschlichkeit und Solidarität. Die Schicksale, die sich hinter den vielen Namen verbergen, sollen uns immer wieder ermutigen, einen Weg zu einem Miteinander zu finden, der niemanden ausschließt oder zurücklässt, und diesen Weg weiterzugehen, auch wenn es manchmal schwierige Barrieren zu überwinden gilt.
Ingrid Körner
Senatskoordinatorin für die Gleichstellung behinderter Menschen der Freien und Hansestadt Hamburg