Die Vorgeschichte der »Euthanasie«
»Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?«
Diese Frage stellen Karl Binding und Alfred Hoche in ihrem Buch »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens – ihr Maß und ihr Ziel« 1920. Sie geben folgende Antwort: Die Tötung eines kranken oder behinderten Menschen sei gerechtfertigt, wenn sein Lebensbeitrag geringer sei als die Leistung der »Volksgemeinschaft« für ihn und wenn die Tat »Ausfluß freien Mitleids« sei.
Auf diese damals populären Gedanken konnte Adolf Hitler zurückgreifen, als er 1939 den sog. »Euthanasie«-Erlass verfasste. Der Krieg nach außen und nach innen begann zur gleichen Zeit.
Dieses formlose Geheimschreiben Hitlers war weder Befehl noch Gesetz, es »ermächtigte« zum Töten. Es hatte die Funktion – verstärkt durch die Rückdatierung auf den Tag des Kriegsbeginns –, Skrupel bei den beteiligten Medizinern und Juristen zu zerstreuen. Ein förmliches Gesetz sollte folgen, blieb aber in der Schublade. (Die handschriftliche Bemerkung unten links lautet: »Von Bouhler mir übergeben am 27.8.40 Dr. Günter«. Als Reichsjustizminister hatte Günter auf ein entsprechendes Gesetz gedrängt, aber nur dieses Schreiben erhalten.)
Vorangegangen waren seit 1933 die Jahre der Erfassung, Ausgrenzung und Verfolgung aller politisch Andersdenkender, der jüdischen Bürgerinnen und Bürger und aller für »erbminderwertig« gehaltenen Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen. 1933 wurde auch das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erlassen, auf dessen Grundlage mindestens 400.000 Menschen zwangssterilisiert wurden. In Hamburg waren 15.800 Frauen und Männer von Zwangssterilisationen betroffen.
Die Situation in den Heimen und Anstalten verschlechterte sich von 1933 bis 1939 durch Kürzung der Mittel für Verpflegung und Versorgung und gleichzeitige Überfüllung dramatisch. Die Staatskrankenanstalt Friedrichsberg wurde 1934/35 aufgelöst, um »verdienteren Volksgenossen den schönen Eilbekpark zu öffnen« (aus dem »Friedrichsberg-Langenhorn Plan« von 1935), während die Bettenzahl in Langenhorn von 2.262 auf 2.748 und in den Alsterdorfer Anstalten von 1.257 auf 1.872 anstieg.
Hintergrundtexte zum Lern- und Gedenkort Langenhorn
DIE VORGESCHICHTE DER »EUTHANASIE« (diese Seite)